Seelenstriptease

Eine Reaktion auf einen Kommentar meinerseits bei creature bringt mich dazu, mich mal ein wenig "naggisch zu mache", wie wir Hessen sagen.

Damit man nicht extra rüberklicken muß (obwohl - das ist eine recht amüsante Geschichte) hier mal der Dialog, der den Stein ins Rollen brachte:

creature
musikberieselung den ganzen tag geht einmal gar nicht, ich verstehe nicht wie menschen das aushalten?

virtualmono
Musiker halten das nicht nur aus, die brauchen das sogar wie die Luft zum atmen ;-) Aber es kommt natürlich immer auf die Musik an - Muzakberieselung den ganzen Tag würde mich wahnsinnig machen...

Musiker (Gast)
virtualmuono, das ist nicht wahr. kein kollege in meinem bekanntenkreis hört unkontrolliert musik, die meisten bevorzugen die ruhe.

virtualmono
Von unkontrolliert war ja auch nicht die Rede...

Ich bin anders. Das sieht man, das merkt man auch recht deutlich, wenn man mich näher kennt, und das macht überhaupt nichts - also jedenfalls mir macht es nichts, im Gegenteil.

Das bringt mich zum eigentlichen Thema - nämlich meinem Verhältnis zur Musik und den Umgang damit. Musikhören ist bei mir - im Gegensatz zu wohl den meisten Menschen um mich herum und überhaupt - immer ein aktiver Vorgang. Selbst wenn ich mich auf etwas ganz anderes konzentriere, so werden doch im Kopf permanent Harmoniefolgen und Melodien analysiert, ja geradezu seziert, ohne daß mich das irgendwie sonderlich ablenkt, und dabei ist es auch relativ egal, ob es sich um "das übliche 2-5-1-Geraffel" handelt oder um schräge 5er- oder 7-er-Takte mit aberwitzigen "Unkadenzen". Das führt dann auch dazu, daß ich das Zeug irgendwann einfach im Kopf habe und auswendig ziemlich genau spielen kann. Und obwohl ich auch eine umfassende musiktheoretische Ausbildung genossen habe (Musik-LK), so ist doch das Vom-Blatt-Spiel so gar nicht meins - irgendwie fehlt da die direkte Verknüpfung vom Optischen zum Akustischen, ich bin eben mehr Ohren- als Augenmensch. Dieser Umstand hat dann unter Anderem auch dazu geführt, daß ich nicht Musik studiert habe.

Musiker ist wahrscheinlich Berufsmusiker - nur so kann ich mir seine Reaktion erklären. Wenn ich mehrere Stunden am Tag üben würde, dann wäre ich wahrscheinlich auch froh, irgendwann einmal einfach nur Ruhe zu haben - das Gehör muß sich ja auch erholen. Ich bin Musiker aus Passion, aus Liebe zu abgedrehten Sounds und ungewöhnlichen, überraschenden Arrangements und "Grenzüberschreitungen" in der Musik, und ich komme viel zu selten dazu, das völlig auskosten zu können. Daher rührt wohl mein Bedürfnis, wenn ich schon nicht ständig produzierenderweise in die Musik eintauchen kann, sie zumindest bei allen anderen Tätigkeiten, die nun einmal dem schnöden Broterwerb oder schlicht der Funktionsfähigkeit des Haushaltes geschuldet sind gewissermaßen in mich aufzusaugen. Während ich diese Zeilen schreibe läuft zum Beispiel "A Trick Of The Tail" von Genesis - mein unbestrittenes Lieblingsalbum von ihnen (wobei "Selling England By The Pound" auch ein absoluter Knüller ist), und ich bin mit jeder Note sowieso "per Du", da ich sie sicherlich viele hundert Male gehört habe.

Heute war er ja dann da, der angekündigte Schnee - Tief Petra hatte ganze Arbeit geleistet und uns zwanzig Zentimeter Neuschnee beschert, und nachdem ich dann knapp eineinhalb Stunden damit beschäftigt war, die Gehwege wieder funktionsfähig zu machen habe ich kurzerhand beschlossen, mir die Fahrt ins Büro zu ersparen und zuhause zu arbeiten, um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden - und die hervorragenden Resultate des heutigen Tages brachten mich überhaupt erst dazu, diesen Beitrag zu schreiben. Selbstredend habe ich im Büro meistens auch den ganzen Tag Kopfhörer auf den Ohren, aber das ist einfach trotzdem nicht wirklich dasselbe. Hier muß ich nicht für jede Zigarette die Arbeit unterbrechen, kann die Musik über die Lautsprecher mitlaufen lassen, der Weg zur Kaffeemaschine ist kürzer - insgesamt hat das alles nur Vorteile, die die Produktivität unglaublich steigern. Überhaupt laufe ich zur Hochform auf, wenn ich möglichst ungestört (daß die Musik mich nicht stört, sondern beflügelt, das dürfte ja der geneigten Leserschaft inzwischen kar geworden sein) und konzentriert an etwas arbeiten kann, was im Büro mittlerweile wieder nahezu unmöglich ist - schon gar nicht, wenn ich mich nicht wenigstens mittels Kopfhörer von den ganzen Störgeräuschen abschotte, die so eine "tolle" Cubicle-Landschaft nun einmal mit sich bringt.

Wie auch immer - es gbt nichts, was einen derartigen unmittelbaren emotionalen Einfluß hat wie Musik. Es gibt Songs, bei denen laufen mir einfach automatisch die Tränen, weil sie mit bestimmten Ereignissen in meinem Leben verknüpft sind oder einfach darauf passen (das sind dann die Lieder, die ich auch auf keinen Fall singen kann, denn Singen und Heulen geht schlecht zusammen...), es gibt Musik, die mich aufbaut wenn ich in einem tiefen Loch bin - man braucht nur auf den Knopf zu drücken, und es passiert einfach.

Der Musiker kennt wahrscheinlich auch den Begriff "Muzak" nicht, sonst hätte er meinen Kommentar wohl besser einordnen können.

P.S.: Ich habe dann heute Nachmittag tatsächlich eine geschlagene halbe Stunde gebraucht, um das Bluesmobil vollständig vom Schnee und Eis zu befreien - es war also eine weise Entscheidung, das heute früh nicht auch noch zu machen, sonst wäre ich wahrscheinlich vollends genervt gewesen. Der Schnee sieht zwar schön aus, und es macht sogar Spaß, auf unserer verschneiten Straße zu fahren, aber die Arbeit damit brauche ich nicht wirklich...
creature - 18. Dez, 09:01 - geändert 18. Dez, 09:01

"muzak"?
da mußte ich erst mal wikipedia bemühen mir eine antwort zu geben.
bei langen autofahrten höre ich auch musik, aber die hab ich mir ausgesucht, und ich muß sie auch wieder abschalten wenn sie mich beim denken stört.

ich teilte mit diesem maler einst eine bescheidene unterkunft, er malte tag und nacht und es lief immer musik dabei, da war ich noch sehr jung und es störte mich gar nicht!

virtualmono - 18. Dez, 09:36 - geändert 18. Dez, 09:36

Als ich damals den Aerodeck gekauft habe, war da tatsächlich kein Radio drin - die Vorbesitzerin meinte nur "man gewöhnt sich daran". Ich so: "Nein, daran könnte ich mich niemals gewöhnen"...
steppenhund - 18. Dez, 11:57 - geändert 18. Dez, 11:57

Bei mir ist es etwas anders:
Also der Unterschied Ohren/Augen ist bei uns beiden ja besonders stark ausgeprägt.
Ich könnte schon den ganzen Tag Musik hören, wenn es "gute" Musik ist. Da gibt es Beispiele: Goldbergvariationen, The Wall, Köln-Konzert. Die habe ich 12 Stunden nonstop gehört, wenn ich im Auto in die DDR gefahren bin.
Muzak musste ich erst nachschlagen, diese Musik hat bei mir konterproduktive Auswirkungen, die kann mich tatsächlich vom Kauf abhalten.
Was Aggressionen bei mir erzeugt, ist pornografische Musik. Damit meine ich nicht den Text. (Die sadopoetischen Gesänge eines Konstantin Weckers liebe ich.) Nein, ich meine Musik, deren Aufbau so konstruiert ist, dass es ein Hit werden "muss", oder wo ich jede 2. oder 6. Stufe so zuordnen kann, dass ich mir denken muss, jetzt denkt sich der Komponist das Gleiche wie ich anhand des Spruches (dort allerdings im positiven Sinn) des österreichischen Außenministers darstellen kann.
Es ging um den Staatsvertrag, Figl im Gespräch mit den Russen beim Heurigen sagt zu sich selbst: "Jetzt no a Viatal, doan sans wach" (Jetzt noch ein Viertel Wein, dann sind sie weich - dann unterzeichnen die auch noch.)
In dem Zusammenhang stelle ich auch fest, dass man früher bei Eurovisionskontests durchaus auch noch gute Schlager vorgefunden hat. Heute gibt es zwar auch noch tolle Chansons, die auf dem letzten oder höchstens vorletzen Platz landen, der Rest ist "pornografische" Musik. Und ich oute mich hier ebenfalls, wenn ich zugebe, dass ich Menschen, die sich hier sogar die Mühe machen, die einzelnen Beiträge zu kommentieren und für die das Ansehen und Anhören des Contests ein Pflichttermin ist, verachte nicht besonders hoch einschätze. Das könnten keine Freunde von mir sein.
Und keine meiner Freundinnnen hätte das je getan.

virtualmono - 18. Dez, 12:29 - geändert 18. Dez, 12:29

Den nachhaltigsten Eindruck hinterläßt bei mir immer Musik, bei der ich im ersten Moment denke "Verdammt, was ist das denn?" oder "Naja, häte ich mir vielleicht doch schenken sollen", und die sich beim wiederholten anhören dann aber erst so richtig "entfaltet". Ein wunderbares Beispiel dafür ist Gry, anfangs konnte ich so gar nichts damit anfangen, aber dann... und seit mindestens zehn Jahren geht mir das mit jedem neuen Depeche-Mode-Album auch so.

Der Augon/Ohren-Unterschied ist insofern witzig, als wir ja doch recht viele Übereinstimmungen aufweisen, aber anscheinend auf ganz anderen synaptischen Verknüpfungen dorthin gekommen sind. Es würde mich allerdings auch erschrecken, wenn es anders wäre ;-)

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